
Der Lehrkräftemangel in Deutschland ist längst keine Zukunftsprognose mehr – er ist Realität. Während viele Bundesländer verzweifelt um neue Pädagogen werben, steigen immer mehr Lehrerinnen und Lehrer aus dem System aus – und das oft weit vor dem Ruhestand.
Ein beunruhigender Trend, der das ohnehin angeschlagene Bildungssystem weiter destabilisiert. Eine aktuelle Analyse der Kultusministerkonferenz (KMK) prognostiziert bis 2035 einen Fehlbedarf von rund 49.000 Lehrerkräften. Das wahre Ausmaß könnte jedoch noch größer sein – vor allem, wenn die Abwanderung weiter zunimmt.
Psychosoziale Belastung und Burnout
Einer der Hauptgründe für den frühzeitigen Ausstieg ist die immense psychische und emotionale Belastung des Berufs. Lehrerinnen und Lehrer sind längst nicht mehr nur Vermittler von Wissen, sondern zugleich Sozialarbeiter, Verwaltungsfachkräfte, Krisenmanager und Elternberater. „Ich habe mich gefühlt wie in einem Dauerlauf ohne Ziel“, beschreibt Hannah Fachinger, eine Lehrerin aus Niedersachsen, ihren Entschluss zum Ausstieg.
Studien zeigen, dass sich mehr als jede zweite Lehrkraft ausgebrannt fühlt. Laut einer Umfrage der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) aus dem Jahr 2023 berichten 58 % der Lehrkräfte über regelmäßige Erschöpfungszustände. Der Berufsalltag sei zunehmend von Überstunden, ständiger Erreichbarkeit und emotionaler Überforderung geprägt. Konflikte mit Schülern und Eltern, ein steigender Anteil von Inklusions- und Integrationsarbeit sowie der bürokratische Mehraufwand lassen kaum noch Raum für Erholung.
Werteverlust und Sinnkrise
Neben der Überforderung klagen viele Lehrer über eine zunehmende Entfremdung von ihrem Berufsethos. „Ich bin Lehrerin geworden, um Kinder zu begeistern, nicht um Excel-Tabellen zu pflegen“, sagt eine Aussteigerin aus Nordrhein-Westfalen. Der Wunsch, pädagogisch sinnvoll zu arbeiten, kollidiere häufig mit der Realität aus Lehrplänen, Notendruck und Prüfungswahnsinn.
Der Unterricht werde oft auf das Abarbeiten von Stoff reduziert. Die Zeit für kreative, individuelle Förderung fehle, und der Frust über eine „Kopierer-zentrierte“ Pädagogik wächst. Das Gefühl, nicht mehr wirksam zu sein, bringt viele zur inneren Kündigung – oft ein erster Schritt Richtung Ausstieg.
Fehlende Selbstwirksamkeit und mangelnde Anerkennung
„Ich habe über Jahre hinweg das Gefühl gehabt, in einer Höhle zu leben – ohne Licht, ohne Entwicklung“, berichtet ein ehemaliger Gymnasiallehrer in einem Interview mit dem Portal *condorcet.ch*. Die mangelnde Selbstwirksamkeit und die Stagnation im System seien zermürbend gewesen. Viele Pädagog\:innen berichten, dass sie sich kaum weiterentwickeln können – und wenn, dann meist in ihrer Freizeit und auf eigene Kosten.
Auch die gesellschaftliche Anerkennung sei in den letzten Jahren deutlich gesunken. Lehrerinnen und Lehrer stehen zunehmend unter Generalverdacht: zu viele Ferien, zu wenig Leistung, zu hohe Krankenstände – so lauten oft die öffentlichen Vorurteile. Der daraus resultierende Druck verstärkt die innere Distanzierung vom Beruf.
Schlechte Führung und belastende Rahmenbedingungen
Ein weiterer Aspekt ist die unzureichende Führungs- und Schulentwicklungskultur. In vielen Schulen herrscht keine unterstützende, sondern eher verwaltende Leitung. Schulleitungen selbst sind häufig überlastet, Führung wird selten als aktiver Gestaltungsprozess wahrgenommen. Konflikte mit der Schulleitung oder das Gefühl, im Kollegium allein zu sein, gehören zu den häufig genannten Kündigungsgründen.
Hinzu kommen absurde bürokratische Hürden: „Ich habe tagelang versucht, ein neues Passwort für das Drucksystem zu erhalten“, erzählt eine Grundschullehrerin, „aber das Sekretariat war überfordert, und die IT war nicht erreichbar.“ Solche Kleinigkeiten summieren sich – und werden zu einem System aus struktureller Frustration.
Typische Ausstiegsprofile
Besonders alarmierend ist, dass viele Lehrkräfte den Dienst deutlich vor der Altersgrenze verlassen. In Nordrhein-Westfalen etwa gaben laut dem Schulministerium im Schuljahr 2023/24 rund 64 % der aus dem Dienst ausscheidenden Lehrerinnen und Lehrer an, unter 40 Jahre alt zu sein – ein dramatisches Signal.
Manche wechseln in die Wirtschaft, einige gehen in die Bildungsberatung oder ins Coaching, andere steigen komplett aus – und heilen sich in völlig anderen Berufsfeldern, etwa im Handwerk, der Kultur oder der IT. Die Rückkehrquote ist niedrig.
Teufelskreis: Der Mangel befeuert den Ausstieg
Ironischerweise verschärft der Lehrkräftemangel die Ursachen für den Ausstieg zusätzlich. Je mehr Lehrkräfte fehlen, desto größer die Belastung für die verbleibenden. Vertretungsstunden, Mehrarbeit, ständige Erreichbarkeit und das Gefühl, nur noch Löcher zu stopfen, lassen viele ans Aufgeben denken. Der Deutsche Lehrerverband spricht von einer „Abwärtsspirale der Erschöpfung“, die sich selbst beschleunigt.
Die Landesregierung in NRW meldete Anfang 2025 über 8.000 unbesetzte Lehrerstellen. Trotz Neueinstellungen, etwa über Quereinsteigerprogramme oder Boni für MINT-Fächer, bleibt die Lücke bestehen. Besonders betroffen sind Grundschulen, Haupt- und Förderschulen – dort fehlen laut KMK bis 2035 bundesweit Zehntausende.
Auswirkungen auf das Schulsystem
Die Folgen sind dramatisch: Unterrichtsausfälle häufen sich, gerade in sogenannten Brennpunktschulen. Fächer wie Kunst, Musik, Ethik oder Physik fallen oft monatelang aus. Die Zahl der Seiteneinsteiger\:innen steigt – allerdings häufig ohne ausreichende pädagogische Qualifikation.
„Wir kämpfen nicht nur um Lehrkräfte, sondern um Qualität“, warnt GEW-Chefin Maike Finnern. Auch Eltern klagen über ungleiche Bildungsbedingungen. In strukturschwachen Regionen bedeutet der Lehrermangel de facto Bildungsbenachteiligung. Selbst motivierte Lehrer\:innen resignieren zunehmend – und verweigern innerlich jede Innovation.
Notwendige Maßnahmen und Lösungsansätze
Die Ursachen sind vielschichtig – entsprechend komplex müssen die Lösungen sein.
1. Arbeitsentlastung und bessere Ausstattung
Mehr Unterstützung durch Sozialarbeiter, IT-Fachkräfte und Verwaltungspersonal könnte Lehrer entlasten. Auch die Reduktion von Korrekturverpflichtungen, z. B. bei Klassenarbeiten, wird diskutiert. Einige Länder erproben bereits „Entlastungsstunden“ zur Stressvermeidung.
2. Wertschätzung und gutes Leadership
Ein respektvoller Umgang, transparente Kommunikation und Weiterbildungsmöglichkeiten im Kollegium sind zentral. Leitungen sollten in pädagogischer Führung geschult werden und nicht nur Verwaltungsakteure sein.
3. Kreativität und Selbstwirksamkeit stärken
Raum für Projekte, interdisziplinären Unterricht und pädagogische Freiräume sind wichtig. Initiativen wie „Schulen im Aufbruch“ zeigen, dass individuelle Freiheit auch Systemtreue fördern kann.
4. Teilzeitmodelle und flexible Karrierepfade
Ein Großteil der Lehrerinnen arbeitet in Teilzeit – nicht aus Bequemlichkeit, sondern aus Selbstschutz. Eine pauschale Einschränkung dieser Möglichkeiten – wie von einigen Bildungsministerien erwogen – könnte die Situation verschärfen.
5. Multiprofessionelle Teams und gezielte Quereinstiege
Teamarbeit mit Schulpsychologen, Sozialpädagogen und Lerncoaches sollte Standard werden. Quereinsteigerprogramme brauchen klare Standards und begleitete Einarbeitung, um nachhaltig zu wirken.
Fazit und Ausblick
Der Lehrkräftemangel ist nicht nur ein quantitatives, sondern vor allem ein systemisches Problem. Solange das Bildungssystem nicht anerkennt, dass Lehrer\:innen mehr als „Funktionseinheiten“ sind – nämlich Menschen mit Idealismus, Bedürfnissen und Grenzen – wird der Exodus weitergehen. Die Politik steht vor einer doppelten Herausforderung: kurzfristige Lücken zu schließen und langfristig ein attraktives, gesundes Arbeitsumfeld für Lehrkräfte zu schaffen.
Denn eines ist sicher: Ohne motivierte Lehrerinnen und Lehrer gibt es keine Zukunft für das Bildungssystem – und damit keine für unsere Gesellschaft.