Wachstum bei reinen Online-Schulen

Das deutsche Schulsystem hat definitiv seine Schwächen, aber oft werden diese relativiert mit dem Hinweis auf „amerikanische Verhältnisse“. Bei diesen viel zitierten amerikanischen Verhältnissen denken wir an Amokläufe, Bandenkriege auf dem Schulhof und völlig überforderte Lehrer. Mit Sicherheit gibt es Regionen, auf die diese Vorurteile teilweise zutreffen. Tatsache ist aber auch, dass das deutsche Schulsystem ebenfalls an vielen Stellen krankt und dass immer mehr Kinder zu Schulverweigerern, ja sogar zu Lernverweigerern werden, weil sie dem Druck des deutschen Schulsystems nicht gewachsen sind. Viele Eltern wissen, dass das gesetzlich festgelegte Recht ihrer Kinder auf individuelle Förderung im praktischen Schulalltag reine Makulatur ist und sich höchsten auf eine zusätzliche Förderstunde pro Woche in einem Fach beläuft, in dem das Kind auffallend schwache Leistungen zeigt.

Und genau hier liegt für viele Eltern das Problem: Die Schüler an deutschen Schulen werden allein über ihre Defizite definiert. Selten erleben Schüler, dass Lehrer den Dialog mit den Eltern suchen, um die Stärken eines Kindes zu loben. Der Fokus liegt immer auf nicht erbrachten Leistungen und viele Kinder rebellieren gegen den ständig wachsenden Leistungsdruck durch aggressives Verhalten oder stille Verweigerung.

Kein Wunder also, dass Eltern auf der Suche nach Alternativen sind. Hier kommen wieder die amerikanischen Verhältnisse ins Spiel, die eben nicht immer nur negativ sind. In Amerika besteht für Kinder – wie übrigens in vielen Ländern der Welt – keine Schulpflicht, sondern Lernpflicht. Deutschland ist weltweit das einzige Land, in dem die Schulpflicht die Anwesenheit der Schüler in einem Schulgebäude fordert. Was vielleicht ursprünglich als ein Recht auf Chancengleichheit angedacht war, führt aber heute für viele Familien, die ihre Kinder gern alternativ zum öffentlichen Schulsystem beschulen würden, zu großen Problemen. Das in Amerika, England und vielen weiteren Ländern bekannte Homeschooling ist in Deutschland ein Gesetzesverstoß, die Alternativen sind aber rar gesät. Wer nicht gerade möchte, dass sein Kind an einer Waldorfschule „seinen Namen tanzen lernt“, hat Schwierigkeiten, alternative Schulen zu finden. Ganz besonders im Bereich der weiterführenden Schulen ist ein Wechsel auf eine alternative Schule mit humanistischer Ausrichtung, die meistens noch durch Elternbeiträge finanziert werden muss, oft nur durch einen Umzug möglich.

Online-Schulen scheinen da einen Ausweg aus der Krise zu zeigen, denn sie sind ortsunabhängig. So weit, so gut. Ganz abgesehen von der deutschen Rechtslage sehen Kritiker dieser Lernform auch viele soziale Probleme auf die Schüler zukommen. Wie soll ein Kind, wenn es allein mit einem PC in seinem Zimmer Vokabeln und Mathe-Formeln büffelt, Kontakte zu Gleichaltrigen pflegen und Sozialkompetenz erlernen? Diese Kritiker vergessen aber, dass jedes Kind bereits ein soziales Umfeld hat. In vielen Städten entstehen heute sogar Mehrgenerationenhäuser, um diese „Kasernierung nach Jahrgängen“, wie sie an Schulen herrscht, als überholtes System wieder aufzubrechen.

Ein weiterer Kritikpunkt ist die unterschiedliche Qualität einzelner Online-Schulen, und die Frage, ob diese Lernform eine umfassende Allgemeinbildung erzielen kann, ist berechtigt und wichtig. Trotzdem nehmen in Amerika die Zahlen der Online-Schüler zu, wie das Magazin Spiegel Online in folgendem Artikel berichtete: http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/new-scientist-in-den-usa-wird-online-unterricht-immer-beliebter-a-865044.html.

Der Artikel spricht noch einen weiteren wichtigen Aspekt an: Viele Lehrer im aktiven Schuldienst haben ihren Beruf noch erlernt, als es noch nicht einmal Handys gab, geschweige denn die Möglichkeiten einer Internet-Schule. Das Wachstum der digitalen Schule bedroht Lehrer der älteren Generation in ihrer Existenz. Zugleich bricht das Internet aber alte Strukturen auf und hat das Potential, wieder an einem wichtigen pädagogischen Punkt anzusetzen, der in unserem Schulsystem verschüttet wurde, nämlich die Schüler da abzuholen, wo sie stehen – im selbstverständlichen Umgang mit digitalen Medien.

Tatsache ist, dass wir keine andere Möglichkeit haben, als das Internet als einen Teil der Lernwelt zu akzeptieren. Tatsache ist auch, dass unsere Auffassung von Schule dringend Reformen braucht, die neue Lebensrealitäten einbeziehen. Wenn das Zentralabitur möglich ist, muss es auch möglich sein, für Online-Schulen einen verbindlichen Standard zu schaffen, der durch regelmäßige Lernkontrollen gewährleistet wird. Soziale Kompetenz und Werte könnten den Schülern durch regionale Lerngruppen vermittelt werden, in denen sie regelmäßig ihre Online-Mitschüler treffen. Mit dieser Mischform könnten wir zu einem neuen Lernverständnis finden.

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